Die Geschichtsschreibung spricht nicht von einem Bauernaufstand, wenn von der Rebellion
der Sikhs aus den Jahren 1710 bis 1715 berichtet wird. Aber mindestens drei Viertel der
Bevölkerung waren zu dieser Zeit Bauern.
Bauernaufstände gehörten nicht in das Geschichtswunschbild der Reichen. In Wirklichkeit stellte dieser Aufstand
jedoch ein Musterbeispiel dar, wie aus religiöser Verbrämung in der Geschichtsschreibung die sozialen
Ursachen solcher ausufernden blutigen Revolten für die Nachwelt vertuscht wurden.
Dazu bot sich natürlicherweise die tatsächliche Vermengung der religiösen mit der sozialen Motivation an,
die zusammen Massen bewegen können. Das vermag ein Historiker bei vielen Bauernrevolten
in der Weltgeschichte finden. Es ist ein Problem der Interpretation, welche Seite man
hervor hebt, und es klingt nicht unwahrscheinlich, wenn kolonial denkenden Historikern
die religiöse Variante besonders vorteilhaft erschien. (1)
In Indien betraf es die relativ junge Religion der Sikhs, die um 1500 vom Guru Nanak begründet wurde.
In das Bild einer religösen Erhebung zweihundert Jahre später passt die Vorgehensweise der Bauern, beginnend mit der
Bestrafung der schlimmsten Herrscher anderer Religionszugehörigkeit und weiterführend bis zur Ausrufung eines eigenen Königs,
selbstverständlich nach dem Vorbild der existierenden Staatsmacht, nur eben gerechter, bäuerlicher
aber mit eigener Religion.
Nicht in diesen Kolonialhistorikerstandard paßt die soziale Zusammensetzung der bewaffneten
Bauernarmee. Sie bestand eben nicht nur aus Sikhs, sondern auch aus armen
landlosen Hindus und Moslems.(2) Nicht ganz neu, aber dennoch untersuchenswert ist
die Herausgabe eigenen Geldes im neu gegründeten Staat. Die eigene Staatsbildung ist ein
weiterführendes Ziel und setzt sich ab von schlichteren Bauernrevolten.
Kein Unterschied dagegen ist in der Art und Weise zu finden, mit der die Herrscher ihre Macht zurück eroberten:
durch Gewalt und Betrug. Und man kann überall auf der Welt die unglaubliche Brutalität nachweisen, mit der
besiegte Bauern behandelt wurden.
Das System der Dschagir
Der Sikh-Aufstand fiel in die beginnende Niedergangszeit des indischen Mogulreiches.
Der Staat unter Aurangzeb (gest. 1707) tendierte am Ende seiner Regierungszeit zum Bankrott.
Im Jahr 1679 hatte der Großmogul die Kopfsteuer (Dschazia) für die nichtislamischen Untertanen eingeführt.
Damit offenbarte sich deutlicher seine proislamische Religionspolitik und die Gegensätze zwischen Hindus und Moslems
brachen immer weiter auf. Zahlreicher werdende Aufstände charakterisierten seine Amtszeit.
Auch die Agrarpolitik Aurangzebs diente der Stärkung der islamischen Feudalherren, der Dschagirs. Er
konfeszierte ausgedehnte Ländereien und Vermögen indischer Tempel und enteignete kleine und mittlere Hindus.
Früher erbliche feudale Besitzungen wurden in Amts-Dschagirs verwandelt und erweiterten das Staatseigentum, das damit
zum Eigentum des Moguls zählte.
Eine Besonderheit der Amtsführung Aurangzebs bestand im Steuerschuldenerlass für große feudale Dschagirdars.
Dazu bot der religiöse Hintergrund der meisten Wucherer wiederholt Möglichkeiten, denn vermögende
Hindus bildeten oft die Inhaber des Handels und der Wuchergeschäfte. Hindus wurden auch nach und nach aus dem Staatsdienst entfernt.
Die Eroberungszüge des Moguls in den Süden dienten der Erweiterung des Staatsschatzes und vor allem der
Bodenerweiterung. Neue ausgedehnte Ländereien wurden an den hochkommenden Mogul-Adel vergeben. Da seine Politik
unter der Fahne des streitbaren Islam propagiert wurde, konnte er mit vielen Anhängern inmitten seiner muslimischen
Untertanen rechnen.
Hof des Mogul-Kaisers in Dehli Darstellung aus dem Jahr 1688
Das Dschgagir-System erwies sich für die Landwirtschaft langfristig als besonders benachteiligend.
Gekennzeichnet von Korruption lief es einher mit der Auflösung von Verwaltungsstrukturen.
Es beruhte auf nichtvererblichen Lehensstellen anstelle von Gehältern für die
Beamten des Moguls. Damit vom Mogul belohnte Leute konnten kein Interesse an langfristigen Aufbauerfolgen
entwickeln. Sie mußten auf Gedeih und Verderb so viel wie möglich aus den Dörfern herausholen, denn der Besitz selbst
war zeitlich begrenzt. In gewisser Weise ähnelte es dem im Osmanischen Reich einst entstandenen Timar-System. (3)
Zugleich war Zentralindien für die Kaufleute unpassierbar geworden, das
Zollsystem durch lokale Machthaber völlig durcheinander gebracht.
Ein undurchschaubar gewordenens Steuersystem lastete nicht allein auf den Bauern, es belastete jeden Händler und
jeden Handwerker. Es gab Steuern auf Land und Boden, Münz-Steuern, Erbschaftssteuern und
Kopfsteuern. Steuererhöhungen setzten ein, weil jeder neueingesetzte Statthalter
so schnell wie möglich seinen Reichtum vermehren wollte. Das mußte er auch, da ihm sein Amt
schnell wieder verloren gehen konnte.
Alle Kunsttätigkeit von Malerei bis Musik geriet unter offiziellen Druck, unter zunehmenden Verboten
verlor sie an Aussagekraft und vieles ging für immer verloren. Die Künstler füchteten sich zunehmend,
vorgeschriebene Schranken zu übertreten und die absurden Normen der menschlichen Darstellungsverbote zu ignorieren.
Die Kunst selbst erstarrte durch geheiligte Vorschriften. Mit Beginn des 18.Jahrhunderts galt das auch für
Architektur und Plastik.
Die Sikhs und eine Legende um den Anführer
Während sich die Armee des Moguls bei der Niederschlagung der Rajputen (eine Art
Ritter-Aufstand) verzettelte, wurden in vielen indischen Dörfern längst
heimlich Handfeuerwaffen nachgebaut. Die Bauern hatten die herrliche Erfahrung
gemacht, das man damit bestens Steuereintreiber verjagen konnte! Es gab schon seit den 1680er Jahren
bäuerliche Aufstände im Panjāb. Der soziale Kampf war längst eröffnet, als der zukünftige
Anführer Banda Bahadur auf den Plan trat. Vermutlich von kleinadliger Herkunft verbrachte er
seine Jugendzeit ohne Bauernarbeit. Eine Jagd-Legende beschreibt sein Motiv, warum er
zeitweise in die Einsamkeit zog.
In jenen Jahren wurden Hindus und islamische Religionsabweichler besonders hart verfolgt.
Der Sikh-Guru Gobind Singh war auf illegalen Suche nach mutigen Gleichgesinnten. Die damalige politische
Verfolgung der Sikhs glich durchaus den Verfolgungen, denen
die evangelistischen Bauern und Waldenser einst im Europa der Frühen Neuzeit ausgesetzt
waren. Aus verständlichen Gründen sammelte der Guru seine Leute in einer Untergrundbewegung.
Unabhängig von hier nicht zu betrachtenden Aspekten der Glaubensrichtung der Sikhs trug diese Religion
auch markante moderne Sozialauffassungen. Um 1700 war diese Religion etwa 200 Jahre alt.
Damals empfanden ihre Anhänger das vorherrschende Kastenwesen als menschenunwürdig.
Sie lehnten auch die Witwenverbrennungen ab und kritisierten die generelle Ausgrenzung der Frauen.
So stellten die Sikhs berechtigt die Frage: Wie kann man Frauen als minderwertig bezeichnen,
wenn sie doch Königen das Leben schenken! Zu den Sikhs-Tugenden zählte, das nur ein ehrlicher Verdienst
in der Gesellschaft gilt, und das dieser Verdienst mit den Bedürftigen zu teilen ist.
Diese Religion entstand (um 1500) zur gleichen Zeit, als die Rupie und der goldene Mohur als Währung eingeführt
wurden und sich die moderne Geldwirtschaft ausbreitete. (Die historische Parallelität zur Europa-Geschichte ist geradezu auffallend.)
Als die Mogul-Regierung beschloss, diesem Irrglauben ein Ende zu setzen, ermunterte der Guru Gobind Singh
den einsamen Banda zur Teilnahme an der Revolte. Der Legende nach antwortet der zukünftige Held: "Ich bin Ihr
Sklave". (Sklave=banda) Der Guru taufte ihn auf den Namen Gurbakhsh Singh (Löwe), aber
Banda selbst nannte sich Baba Banda Singh Bahadur und ging mit diesem Namen in die Geschichte ein.
Sein Auftrag hieß mit fünf beigegebenen Getreuen die bewaffnete Rebellion im Panjāb zu organisieren,
genau genommen einen Bauernaufstand.
Aufstandsgebiet 1710-1715
(Farbe:dunkelgrün: brit. Besitz Mitte 19. Jhd. ; hellgrün: Vasallenstaaten für GB Mitte 19. Jhd.)
Der Aufstand im Panjāb
Anfangs besaß Banda keine Armee. Bei seinen ersten Aktionen bestrafte er mit seinen Getreuen die schlimmsten
Steuereintreiber und rief zu den Waffen. Es kamen immer mehr Aufständische dazu, denn die Bestrafung der Herrschenden
gefiel den Bauern. So gut sogar, das sie der Legende nach ihr Hab und Gut und ihre Tiere verkauften um an Waffen zu kommen
und dem Rebellenheer anzugehören. Auch unbegüterten Hindus, arme Muslime und Angehörige "unterer" schlossen sich Banda an.
So eroberten sie
⇒ Sonepat
und Kaithal. Am 11. November 1709 fiel ihnen nach schweren Kämpfen die Stadt Mughal zu
und damit das Finanzwesen des Moguls!
Wazir Khan, der Gouverneur von Sirhind sammelte Söldner und rüstete für den bevorstehenden Kampf,
denn die Sikhs ließen ihn wissen, das die gerechte Strafe auf ihn zukäme.
Eine andere Sikh-Einheit sammelte sich in Anadpur Sahib und marschierte in Richtung Sirhinds.
Aufgehalten von den Mogul-Truppen entbrannte ein blutiger Kampf bei Ropar (Roop Nagar). Durch den Sieg
konnten sich die Aufständischen vereinen. Sie rüsteten für ihren Kampf im
⇒ Cis-Satlej Bereich des Punjabs.
[ ⇒ Cis-Sutlej states (Historical principalities, India)]
Am 12.Mai 1710 war es soweit für den Sturm auf Sirhind, am 14. Mai konnte es erobert werden.
Der Tod Wazir Khans und seiner Lakaien brachte die lang ersehnte Befreiung. Die erste
Verwaltungshandlung Bandas: eine Bodenübergabe an die Bauern!
Im Nordosten des Panjāb, zwische Sadhora und Nahan, machte Banda das Dorf Mukhlis Garh zu seinem Zentrum
⇒ Lohgarh
(Festung aus Stahl).
Banda führte seine eigene Münzprägung ein. Auf einer Münze stand zu lesen:
Ausgegeben aus der schönen Haupstadt des Glücks, einer Stelle des Friedens für die Welt.
Banda schickte seine Leute zum Uttar Pradesh in den Norden von Delhi. Immer dorthin, wo die Leute über die
Belastungen durch Staatsbeamte und Verwalter klagten. So übernahmen die Sikhs Saharanpur und befreiten Jalalabad.
Auch im Westen des Satlejs und in der Region von Jallandar und Amritsar wurden die Bauern rebellisch.
Korrupte Beamte wurden abgesetzt und durch eigene Leute ersetzt.
Die Sikhs hatten nun die Verbindung zwischen den Hauptstädten Delhi und Lahore erfolgreich unterbrochen. Der
Mogul-Kaiser, gezwungen seinen Kampf gegen die Ritter in Rajasthan aufzugeben, ließ seine Truppen in Richtung
Panjāb marschieren. Er gab den Großalarm an alle Einheiten in Indien. Banda Singh sollte getötet werden.
Alle Gouverneure alarmierten ihre Krieger. Diese sammelten sich bei Srhind und besetzten die Umgebung. Die Sikhs rüsteten
sich für ihren letzten Kampf bei Lohgarh. Der endlose Nachschub für die kaiserliche Armee zwang Banda jedoch zur Flucht
in die Berge und dort blieb er vorerst unauffindbar.
Über die Tatsache, das seine riesige Heermacht nicht in der Lage war, den Aufrührer zu fassen,
soll der Mogul-Kaiser den Verstand verloren haben.
⇒ Shah Alam I. starb am 18.2.1712.
Sein Nachfolger Farakhsyar suchte Banda´s Leute unnachgiebig mit seiner ganzen Armee in den Jammu-Bergen.
Aber auch ihm gelang es nicht, Banda habhaftv zu werden. Erst einem Nachfolgerneffen
⇒ Farrukh Siyar, der später der
berüchtigten englischen
Ostindien-Kompanie
wichtige Handelskonzessionen vermacht, gelang es mit Hinterlist Banda zu stellen.
Dort konnten sich die Aufständischen in einer befestigten Anlage verbergen, die seit dem Frühling 1715 belagert wurde.
Die Belagerung dauerte bis zum 7.Dezember 1715. Die hungernden und erschöpften Kämpfer glaubten den Versprechungen
der Regierungstruppen und gingen auf den Vorschlag zu einem Kommandantentreffen ein. Bei seiner Ankunft
am Verhandlungsort wurde Banda entgegen allen Versprechungen sofort festgenommen und in einen Eisenkäfig gesperrt.
Seine Getreuen legte man in Ketten. Anschließend trieb man alle Gefangenen in einem entwürdigenden Aufzug nach
Dheli. Ihnen voran trug man die Schädel der erschlagenen Bauern.
Nach der Niederlage
Das letzte Kapitel dieses Bauernkrieges ist voller Bitterkeit und Heldentum!
Keiner der Gefangenen konnte durch Folter zum Abschwören gebracht werden. Keiner übte Verrat trotz der Tatsache,
das jeden Tag hundert Häftlinge willkürlich für die Hinrichtung ausgesucht wurden. Statt
Demütigung zu zeigen oder zu klagen sangen die Opfer ihre stolzen Hymnen! Dieses tapfere Sterben schockierte selbst die
Vertreter der zukünftigen Kolonialmacht. Mit den Aufzeichnungen der britischen
Gesandten am Hof des Moguls wurden die grausamen Hinrichtungen für die Historie überliefert.
Täglich mußten alle ausgesuchten hundert Männer getötet werden, weil keiner der Delinquenten seinen
Stolz aufgab. Die kopflosen Körper der Tapferen hingen außerhalb der Stadt in die Bäumen, damit niemand sie nachzählen konnte.
Als letztem war der Tod dem Anführer beschieden. Auf besonders
grausame Art, denn auch Banda hatte allen Bestechungsversuchen widerstanden und alle Folter ertragen.
Sie setzten ihn mit Narrenkleidern in einen eisernen Käfig und führten ihn so zur
Hinrichtungsstätte. Vor seinen Augen töteten sie seinen Sohn. Die folgende Folter kann man
nur noch mit der Abartigkeit der Unterdrücker erklären. Anschließend
trennten sie mit glühenden Zangen die Glieder von Bandas Leib ...
So starb Banda Singh Bahadur am 19.Juni 1716.
Nach der der Tragödie des niedergeschlagenen Aufstandes der Sikh-Bauern
zersplitterten in den Folgejahren zahllose Machtkämpfe der regionalen Mogule das Land.
Klein- und Kleinststaaten "regierten" dubiose Maharajas. Die Höfe
vergeudeten alle Steuereinnahmen und ständig wurden die Statthalter von ihren Posten abgelöst oder neu ernannt,
was gleichbedeutend mit lokalen Kriegen war. Von außen drängten Perser, Afghanen und
die ⇒ neuen Kolonialherren aus Europa. Und schließlich endete das
Mogulreich ruhmlos 1857, nachdem die Engländer eine letzte große Erhebung (Sepoy-Aufstand) niederschlugen.
Die religiöse Zerrissenheit Indiens werden die zukünftigen Kolonialherren später perfide zu nutzen wissen.
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